Sonntag, 14. September 2014

Warum ich ein Wachstumskritiker bin?

Liebe Zeitgenossinnen und Zeitgenossen!

Warum wird uns Kritikern des derzeitigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem eigentlich vorgeworfen eine Utopie zu entwickeln, wenn die eigentliche Utopie das derzeitige Wirtschafts- und Gesellschaftssystem selbst ist?

Es wird uns (ja in diesem Fall benutze ich das Wort uns, da es viele sind) vorgeworfen, dass wir zu utopische Ziele haben, dass wir vielleicht höchstens auf dieses Ziel hinarbeiten können, aber es nie erreichen werden. Die folgende Meinung ist sehr weit in die Köpfe vor allem „westlich“ sozialisierter Menschen eingedrungen: Es sei eine Utopie, was Kritiker des derzeitigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems (Kapitalismus), aber auch unserer Regierungsformen (Autokratien, Demokratien, Regimehybriden) an Vorschlägen entwickeln.

Eine Utopie ist nach der Wortbedeutung ein Nicht-Ort, also etwas nicht existentes und genauso wird mit diesen als Utopien bezeichneten Vorschlägen umgegangen. „Ach, das ist ja zu utopisch, da muss ich nichts machen, damit muss ich mich nicht beschäftigen, geschweige denn etwas in meinem Leben verändern.“ Diese Einstellung führt einerseits bei aktiven Weltgestaltern zu Resignation, Depression und Verzweiflung und bei passiven dazu, dass Wahlen zu Parlamenten nicht ernst genommen werden, dass auf das Wahlrecht verzichtet wird und jegliche eigene Partizipationsmöglichkeit im Staat, in der Zivilgesellschaft, in wirtschaftlichen Prozessen, aber vor allem im eigenen Leben (z.B. im Konsumverhalten) nicht genutzt wird.

Kommen wir zurück zur Utopie, dem sogenannten „Nicht-Ort“: Ist die Vorstellung, dass wir auf einer endlichen Welt leben[1] und dennoch am besten alle wirtschaftlich wachsen[2] sollen, denn das führe zu Wohlstand für alle, nicht eine unglaubliche Utopie?

Aber dennoch ist dies die Maxime, nach der wir uns in unseren Staaten des Westens (und als ein Bürger eines solchen Staates schreibe ich Ihnen gerade) richten. Wir sagen: „Mehr Wachstum, mehr Rohstoffsicherung, mehr Produktion usw.“ ohne zu bedenken, dass mehr Wachstum, mehr Rohstoffe, mehr Produktion bei uns bedeuten, dass Ressourcen bei uns und an anderen Orten verbraucht werden. Was haben denn eigentlich „deutsche Unternehmen“ für ein Recht, Ressourcen anderer Staaten zu verschwenden und Umweltschäden anzurichten, die leider in viel zu vielen Fällen irreparabel sind?

Das westliche „Entwicklungs- und Fortschrittmodell“, was in Europa und Amerika seit dem 19.Jahrhundert durch die immer stetige Industrialisierung entstanden ist, wurde durch Kolonialismus und Imperialismus in die ganze Welt exportiert, ohne auch die grundlegenden Menschenrechte mit zu exportieren. Denn es wurde bis weit ins 19.Jahrhundert auf Sklaverei gesetzt. Außerdem schuf man menschenunwürdige Abhängigkeitsverhältnisse in der Folge. Man zerstörte einheimische Märkte für den eigenen Bedarf der Industrie und der eigenen Bürger. Es wurde die Umwelt nur noch für Ressourcensicherung erkundet und der Raubbau an der Natur begann seinen Siegeszug in die Handlungsprinzipien nahezu aller Unternehmen.

Die vielen konkreten Praxisbeispiele in Völkern, Stämmen, Familienverbünden und anderen Lebensgemeinschaften des „Wenn alle füreinander sorgen, ist für alle gesorgt“  wurden unterdrückt durch die Einführung von Geld als alleiniges etabliertes Tausch- und Investitionsmittel und vor allem durch die wachsende Militarisierung von Gesellschaft und Staat durch stetig wachsende Waffenproduktion und Waffenexporte. Ab da begannen auch in vielen Gebieten die gewaltsamen Konflikte erneut zuzunehmen und vor allem ein anderes schlimmeres Level zu erreichen (siehe z.B. den Ersten und Zweiten Weltkrieg). Es ging auf einmal und es geht immer noch um Staatsgrenzen, um ethnische Sortierung von Menschen, um mehr oder weniger haben der eigenen Nation / des eigenen Volks, um Zugänge zu Ressourcen und es wurde alles dem Idealbild des „homo oeconomicus“ untergeordnet. Über einen langen Zeitraum gewachsene oder sich als Reaktion entwickelte Konzepte (wie z.B. „Ubuntu“ / Xhosa, Südafrika; „Schalom“; „Ehrfurcht vor dem Leben“ / Albert Schweitzer) wurden und werden dabei wissentlich ignoriert.

Zum „homo oeconomicus“: Ein Mensch, der seinen persönlichen Vorteil sucht, der nicht an den Mitmenschen denkt, der sich nicht einer Moral oder Religion mehr unterordnen will, außer am ehesten der Religion des Geldes und der Profitmaximierung und der sein Leben nicht in Hinsicht auf nachfolgende Generationen lebt.

Nach dem Ende des Kolonialismus endete aber nicht die Vorherrschaft von ausländischen Unternehmen über Ressourcen eines Staates. Es wurde zwar nicht mehr für die Wirtschaft der Kolonialmacht produziert, aber angeblich für einen gemeinsamen Weltmarkt. Dieser Weltmarkt ist aber wiederum nur eine Chiffre für die Produktion für einen übersättigten Markt in Europa und Nordamerika, der dennoch weiter wachsen will und dabei so viel überflüssigen Überfluss hinnimmt. Sie können sich das leisten, da das Geldsystem in ihren Händen ist und sie auch die meisten weltweiten Institutionen kontrollieren. Wir sehen also den dringenden Handlungsbedarf an dieser Utopie!

Welche Zielvorstellung (Vision) können wir ihr entgegenstellen?

Für mich heißt diese Vision: Ein Aufbau einer sozialen Infrastruktur für alle. Eine direkte und kostenlose, da gemeinschaftlich finanzierte, Absicherung eines jeden Menschen Grundbedürfnisse. Darunter fallen bei mir die ausreichende kostenfreie Versorgung mit Nahrungsmitteln und sauberem Trinkwasser, die kostenfreien Zugänge zu Bildung, Gesundheit und regionaler Mobilität und ein angstfreier kostenloser Wohnraum für jeden. Die Ausformung dieser sozialen Infrastruktur ist jeder lokalen und regionalen Einheit selbst überlassen. Es gibt kein richtig oder falsch, es gibt nur das Machen oder Nichtmachen. Es ist nicht die Förderung einer mörderischen Infrastruktur der derzeitigen Ökonomie des Todes. Es ist die Förderung des Konzepts eines „Guten Zusammenlebens“ mit mehr Lebensqualität für alle und nicht falsch verstandenem Wohlstand für Einzelne.

Gerade die Absicherung der Grundbedürfnisse würde zu einer Befreiung aus so vielen Zwängen führen. Das heißt, wir könnten ökologische Nachhaltigkeit nicht nur großen Prestigeprojekten überlassen, sondern selber mit gutem Beispiel vorangehen, durch Subsistenz (Eigenproduktion) und Suffizienz (Eigener Verbrauch). Nur mehr Effizienz, das unsere Ressourcen noch länger halten, hilft uns nicht. Wir brauchen ein Gesund-Schrumpfen der Industrie in den Ländern des globalen Nordens („Westen“) und wir brauchen ein gesundes lokales und regional vernetztes Wachsen der sozialen Infrastruktur.

Sie, als Leserinnen und Leser des Textes, können also sehen, dass ich nicht gegen Wachstum als solches, sondern gegen das mörderische Wachstum unseres derzeitigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem bin. Der menschliche Körper ist dafür das beste Anschauungsmaterial. Er wächst von Geburt an bis zu einem Zeitpunkt, an dem man ihn als erwachsen bezeichnet. Also dem Stand an dem der Körper sich selbst trägt und sich selbst genügt, da er nur noch ersetzt bei Bedarf. Nur die Krebszellen sind sich selbst nicht genug, sie wachsen weiter, befallen andere Zellen und zerstören somit unseren Organismus. Das gleiche machen wir mit unserem derzeitigen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Wir haben viele Krebszellen, angefangen von Stromgewinnung durch Kohle und Uran über Massentierproduktion hin zu unserer gigantischen Waffen- und Rüstungsproduktion. Diese gehören besser ab heute abgebaut als weiter aufgebaut. Dazu kommen noch eine riesige Automobilindustrie, die fiktiven Bedarf schafft (Stichwort: Leasing, Firmenwagen, „Abwrackprämien“) oder viele Unternehmen, die in ihren Produkten des täglichen Bedarfs eine geplante Lebensdauer einbauen (Stichwort: „Geplante Obsoleszenz“).

Wir werden in unseren Staaten des globalen Nordens dann mit unseren staatlichen, sozialen Netzen und Zuschüssen ruhiggestellt. Es findet ein gewisser Ausgleich der ungleich verteilten erwirtschafteten Gewinne durch Steuern statt. Aber das alles bedient nur eine bevormundende ausgleichende Gerechtigkeit, die sich nicht an dem menschlichen Anspruch auf ein gutes Zusammenleben orientiert, sondern auf das konkurrenzgetriebene bessere Leben für Einzelne. Auch die so häufig gewünschte austeilende Leistungsgerechtigkeit: „Wer mehr arbeitet, soll mehr bekommen. Wer mehr Verantwortung hat auch.“ wird mit Füßen getreten bzw. schafft Mauern in den Gesellschaften, die nicht mehr überwunden werden.

Wir brauchen mehr schöpferische Gerechtigkeit, in der wir erkennen, dass alle Menschen etwas beitragen können. Dass wir ihnen und ihren Bedürfnissen, aber auch ihren Möglichkeiten der Mitwirkungen zuhören müssen. Dass wir ihnen Zeit und Raum schenken sollten, worin sie sich entfalten und sich zu aktiven Mitgestaltern unserer Welt entwickeln können. Und dass wir ihnen auch ihre Fehler verzeihen und vergeben, dass wir uns nicht aufspielen sollten, als wären wir der Richter über diese. Natürlich gehören Verletzungen des Rechts, vor allem auch Menschenrechtsverletzungen vor ein Gericht. Aber dieses Gericht sind nicht wir im alltäglichen Umgang miteinander, sondern ausgewählte Menschen, die auf diese Aufgabe vorbereitet werden.

Gerade im Hinblick auf die vielen bewaffneten Konflikte in der Welt wird mir ganz schlecht, da dort mit von uns produzierten und exportierten Waffen die Sorge um die eigene und gesellschaftliche Zukunft einer Gruppe ausgetragen wird. Es geht um den Kampf um Ressourcen, um die Macht über die Verwaltung dieser zu entscheiden und um möglichst lange am Kuchenbuffet der Welt plündern zu dürfen. Dort wird nur auf den eigenen Vorteil geschaut. Die Ökonomie des Todes weiter verschärft und nicht gesehen, dass es auch so etwas geben kann wie eine Ökonomie des Lebens.

Das solidarisch füreinander Sorgen in lokalen solidarischen Ökonomien zum Beispiel kann ein Weg in eine ganz andere Zukunft weisen. Die gemeinsame Zielperspektive einer Absicherung von jedes Menschen Grundbedürfnissen kann die innere Bereitschaft jedes Einzelnen stärken, sich an dem dringend erforderlichen Transformationsprozess unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems zu beteiligen. Und nicht zuletzt wächst mit einer wertschätzenden schöpferischen Gerechtigkeit, die eine Daseinsform der Liebe ist, die auch das Getrennte wiedervereinigt, auch eine Vorstellung von einer besseren Zukunft für alle.

Daher rufe ich Sie auf, liebe Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, diesen Text mit zu unterzeichnen und noch in diesem Jahr anzufangen mit dem bewussten Handeln in dem Sinne dieses Aufrufes.

Es grüßt alle, Leserinnen und Leser,  ganz herzlich,
Frederik Grüneberg

(Über Feedback und Nachfragen jeglicher Art freut sich der Autor!)

Mitunterzeichner_innen:
Elena Grüneberg
Leo Mayatepek
Benigna Grüneberg
Kathi-S. Langner
Dr. Carsten Grüneberg
Jörg Weickert

Julian Bindewald





[1] mit begrenzten Ressourcenvorkommen, mit begrenzten Raum, mit begrenzten Luftvorkommen usw.
[2] Anwuchs der Produktion,  gemessen im Bruttoinlandsprodukt (BIP)